Ich lebe im siebenden Lebensjahrzehnt, da gehört es sich, um die "Erben" zu verschonen, den unübersichtlichen, schriftlichen und bildlichen, Lebensnachlass vorab
einmal selbst kritisch durchzugehen. - Ich will mir einen Überblick verschaffen und ergründen, wo ist meine Lebenszeit geblieben ist? -Viele wichtige Bilder, Dokumente und Notizen werde ich erfassen,
vieles, was ich hier nicht benenne, einscanne oder abschreibe wandert - wie das hier Aufgenommene - in Kisten auf den Dachboden. - Den Rest können die Nachfahren erledigen.
Das zweite Bild im Leben von R.G. (Bildmitte)
Der Aufnahmeort ist Zschortau. Ein Aufnahmedatum gibt es nicht. Ich gehe vom Spätsommer 1952 aus. Damals ahnte ich nicht, welche Überraschungen und Kuriositäten sich
um meine "Menschwerdung" ranken werden. Meine zwei älteren Schwestern, die mich hier in die Mitte genommen haben, möchte ich nicht namentlich benennen. Sie sind unter dem Namen Gundelach nirgend zu
finden. Beide haben als Vater, den gleichen Bernhard, Erich Gundelach in der Geburtsurkunde stehen, wie ich auch. Aber hier fängt meine Lebensgeschichte an, die seines Gleichen sucht. Meine
Geburtsurkunde wurde erst am 19. März 1957 ausgestellt. Sieben Jahre nach meiner Geburt. Warum??? Für mich bis heute ein Rätsel. Aber insofern sehr interessant, da meine Ziehmutter - die Schwester
meiner leiblichen Mutter - genau an einem 19. März Geburtstag hat. Im Jahre 2017 ist sie mit 91 Jahren verstorben. - Als Vater steht in der Geburtsurkunde (1957) besagter Bernhard, Erich Gundelach
amtlich eingetragen. Dieser Mann, mein Zweit- und Nachnamengeber wurde bereits zum Kriegsende, 1945, als vermisst gemeldet. War also nicht annähernd bei meiner Zeugung gegenwärtig. In den damaligen
"Suchunterlagen", fand ich den Eintrag: "Im September 1944 verstorben, Bukarest, Bauchverwundung lt. begl. eidesstl. Erklärung von Erwin Mayer, Donaueschingen ... vom 10.1.1954". - War das der
Auslöser, für mich eine Geburtsurkunde auszustellen? Aber warum dann erst drei Jahre später? Lag es an der mittlerweile Zweistaatlichkeit Deutschlands, am Kalten Krieg? - Die Akte Bernhard E.
Gundelach wurde erst am 16. Juli 1984 abgeschlosssen. Der vorletzte Eintrag vom 2.6.1960 lautet: "Der Beschluß des Amtsgerichts Bln.-Tempelhof-Kreuzberg vom 22.8.1950" - zwei Tage vor meiner Geburt -
Zeichen xxx "wurde aufgehoben, da der Sterbefall beim Standesamt Prenzlauer Berg unter der Nr...... beurkundet wurde. Lt. Verschollenenheitsliste Nr. 491." - Am 16. Juli 1984 ist ein letzter Eintrag
vermerkt: "Grabumnummerierung: Lt. Schb. d. VDK v. 17.5.84 ... Block/Gruft: C, Reihe/Kammer 1, Gr. Nr. 32. Vorher: Sold. Frdh. "Pro Patria" Bukarest, Parz. C-1-29".
Ich werde gewiss nicht hinfahren.
Aber wer war nun mein „Zeuger“, den ich nie kennenlernte, über den ich aber mittlerweile weiß: Mein wahrer Samenvater,
wie ich viel später erfuhr, war bereits Vater von zwölf Kindern und über die Mitte 50 weit hinaus. Er und meine leibliche Mutter flüchteten 1951/52? nach Westberlin, ließen meine zwei Schwestern und
mich zurück. Meine Schwestern kamen bei den Großeltern unter und ich sollte zur Adoption freigegeben werden, was mein Großvater als Familienoberhaupt verhinderte. Er sprach mit seiner jüngeren
Tochter, die genau in meinem Geburtsjahr eine Fehlgeburt hatte. Sie und ihr Mann, Rolf, nahmen mich als ihren Sohn auf. Sie wurden mir Mutti und Vati und sind es auch heute noch über ihren Tod
hinaus. Mein Großer heißt bewusst Rolf. Die leibliche Mutter kehrte nach der versuchten Flucht reumütig zurück, mein „Zeuger“ soll es in den Westen geschafft haben und mit 72 Jahren verstorben sein.
Aber das zu hinterfragen hat mich nie so richtig zur Neugier getrieben. Interessanter fand und finde ich. Die Leibliche heiratete wenig später den drittältesten Sohn meines „Zeugers“ und sie wurde,
von meinem Halbbruder weitere vier Mal Mutter. Somit habe ich, wenn ich mein Schwesterchen, was sich meine (Pflege)Eltern 1958 schenkten, dazu rechne, 19 Geschwister. Um noch einen drauf zu setzen,
wäre ich zu meiner leiblichen Mutter zurück beordert worden, wäre mein Halbbruder zum „Erziehungsvater“ geworden.
Ich durfte 1953 erstmals ins Kinderferienlager nach Lubmin fahren, konkrete Erinnerungen an diese zwei Wochen dort habe ich nicht mehr vorrätig. Nur schwarzweiß Fotografien. Aber auch die sind etwas unscharf, wie meine Erinnerungen an diese frühe Kinderzeit. Die Eltern arbeiteten bereits zu der Zeit im Leichtmetallwerk Rackwitz. Vater als Tischler und Mutter als Sekretärin. Vorhandene Erinnerungen, durch die Bilder bis 1956 sicher unterstützt, erzählen vom Kofferpacken weit vor der Abfahrt, innen klebte Mutter eine Inhaltsliste. Wie viele Schlüpfer, Socken, Hosen, Hemden, Waschzeug, Taschentücher und sonstiger Kram in diesem braunen Ungetüm Koffer befanden. Wir Kinder konnten sie selbst nicht trage. Aber die Eltern brachten uns ja zum „Sonderzug“ der Hunderte Kinder zur Ostsee fuhr. Dort wurden wir ins Ferienlager kutschiert und in einem 3rädrigen Wagen, huch Erinnerung? „Framo“ die Koffer zu den einzelnen Unterkünften transportiert. Wir schliefen auf Strohsäcken auf einem längeren Bretterboden. Links und rechts, ich glaube 5 Kinder nebeneinander. Damals wurde nicht nach Geschlechtern sortiert. Wir waren Kinder. - Die Kinderferienlager waren eine Errungenschaft der damals noch sehr jungen DDR. Ich kann mich an keine traumatisierenden Erlebnisse aus jener Zeit „Kinderferienlager“ erinnern. Es existieren zahlreiche Fotografien (bis 1956), die dokumentieren wie diese bescheidenen aber erinnerungsträchtigen Ferien verliefen. Ich stelle hier einige Fotos ein, damit eine bildliche Vorstellung zum Damals entstehen kann. Schwer, aber ich versuche es. Bild eins und zwei, damals war ich noch nicht einmal 3 Jahre alt. Hinten auf den Fotos steht 1953. Damals muss ich ein müder Typ gewesen sein. Im Boot mache ich den Eindruck müde zu sein. Und auf den Baum bin ich scheinbar auch nur geklettert, ich wollte Ruhe!
Gibt es Kinderferienlager in deutschen Landen überhaupt noch?
Über Bücher kam ich zum Schreiben
Ich versuche mich zu erinnern, hatten die Eltern in meinen Kinderjahren Bücher zu Hause in der Wohnung? Es öffnet sich kein Erinnerungsbild. Auch an Vorlesen kann ich mich nicht erinnern. Es war eine andere Zeit. Ich weiß nur, jeden Monatsanfang fuhr ich, zehn-, elfjährig, mit dem Zug nach Leipzig, kaufte mir dort das neueste Mosaik, auch andere kleine Heftchen, die damals ja nur Pfennige kosteten. Die sammelte ich und las sie gewiss mehrfach. Damals hatten die Zeitungshändler auf dem Leipziger Hauptbahnhof riesige pyramidenartige Holzkarren die mich in ihrer farbigen Vielfalt faszinierten. Das Taschengeld dazu erarbeitete ich mir selber, aber das wird eine andere Geschichte. Mein erstes Wunschbuch war Brehms Tierleben, was ich auch geschenkt bekam. Ich wollte zu der Zeit, 7. Klasse, Tierpfleger werden. Den Wunsch redete mir mein damaliger Biologielehrer Bochmann jedoch aus, nicht etwa, weil ich in Biologie schlecht war, nein, sein Argument: Tierpfleger ist die am schlechtesten bezahlte Berufsgruppe in der DDR, du willst doch sicher später einmal ein Familie ernähren? Das überzeugte mich.
Die ersten Bücher lieh ich mir in der großen Bibliothek im Leichtmetallwerk Rackwitz – mehr als 3000 Beschäftigte - aus, als meine Mutter dort die Bibliothek krankheitsbedingt übernahm (ca. 1962). Sie hatte lange Zeit derbe Handgelenkprobleme (Sehnenscheidenentzündung bis in den Oberarm) und konnte zu der Zeit nicht mehr als Schreibsekretärin arbeiten. So bekam sie als hoch anerkannte Sekretärin, diesen Arbeitsplatz bis zur vollständigen Gesundung. Ich mag damals 12/13 Jahre alt gewesen sein. Von da an kam ich nicht mehr von Büchern los. Ich erinnere mich noch heute an viele Bücher, z.B.: Liselotte Welskopf-Henrich „Die Söhne der Großen Bärin“ (Harka (1962), Der Weg in die Verbannung (1962), Die Höhle in den schwarzen Bergen (1963), Heimkehr zu den Dakota (1963), „Der weiße Slave“ (Hildreth). An Bücher der Dumas, Verne, Tralow, Traven u.v.a. Wenig später kam zum Lesen durch unsere „Klicke“ ausgelöst, Musikhören dazu. Heimlich schalteten wir den „Freiheitssender 904“ und den „Soldatensender 935“, hauptsächlich wegen der Musik, an. Dabei galten beide Sender damals für DDR-Bürger eigentlich als verboten. Da ich damals noch gern Schlager hörte, begann ich im Alter von 13/14 Jahren selber zu schreiben. Ich versuchte mich an Schlagertexten, Liebesgedichten… doch als Muttern das später mitbekam, ich hatte ein DDR-Schlagerheftchen angeschrieben, die auch antworteten, landete alles im Badeofen. Keins dieser „Kunstwerke“ überlebte. Tief traurig bin ich darüber heute im Gegensatz zu damals nicht mehr, weil es wenige später entstandene „Werke“ in die Jetztzeit schafften. Grauenvoll, grauenvoll, dazu Rechtschreibschwäche hoch 10. Das einzig Gute dieser Versuchsjahre im Schreiben meiner Jugendzeit war und ist, ich schaffte es mit Anfang 30 sogar, als Fernstudent am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig aufgenommen zu werden. Zu der Zeit arbeitete ich bereits beim Pioniermagazin „FRÖSI“ und während der Studienzeit (auch danach) beim hochbegehrten DDR-Jugendmagazin „neues leben“, welches gerade mal 10 Redakteure und Redakteurinnen hatte. Für mich eine Art Olymp. Die Rechtschreibschwäche hatte sich beim Erwachsenwerden, Lesen und Schreiben, verflüchtigt. Gut über Zeichensetzung diskutiere ich nicht. Ich setze Zeichen immer noch nach meinen Willen. Bis heute!
Taschengeld
Ich weiß nicht mehr, wenn es genau welches Jahr es war, als wir Kinder in Rackwitz begannen, Huflattich-, Kamille-, und Lindenblüten zu sammeln und diese zu trocken. Sagen wir mal 1960. Unsere getrockneten Erträge brachten wir zur Sammelstelle und bekamen, je nach Gewicht, den Aufkaufbetrag bar auf die Hand. Das stachelte natürlich den Ehrgeiz an, noch mehr zu sammeln und zu trocknen. Die Hausfrauen in unserem Wohnblock waren auf Kamillenblüten spezialisiert, die sie mit breiten Spezialriffeln, oft handgefertigt, von den Getreidefeldern holten. Bei feuchtem Wetter wurden die Dachböden zum Trocknen genutzt. In unserem dreietagigen, 3 Eingänge und 18 Wohnungen umfassenden Neubau roch es wochenlang nach Kamille. Herrschte Sonnenschein, dann wurden die gesamten Ernten auf der weiten Fläche vorm Haus ausgelegt und getrocknet. Wir Kinder, vornehmlich die Jungs waren auf Lindenblüten spezialisiert. Wir kletterten auf die Linden und pflückten und pflückten so lange die Linden blühten. Huflattich war im zeitigen Frühjahr mühseliger, doch wir sammelten die Blüten. Ab meinem 12. Lebensjahr kam eine feste Taschengeldquelle hinzu. Da mein Vater aktiver Kegler war, durfte ich als flinker Bursche jeden Donnerstag beim Training und bei den heimischen Punktspielen Kegeln aufstellen. Das brachte jeweils 6 Mark (DDR-Mark), zusätzlich gab es für jeden einzeln stehen gebliebenen König einen Groschen vom Verursachen, zu den Männertagen 250 Gramm Tatar und Freigetränke. Ach, ja, Papier, Flaschen und Gläser sammelten wir auch, für die Pionierkasse, die uns allen zugutekam. Von Elternseite gab es kein Taschengeld. Sie verdienten damals ja wahrlich selber nicht viel. Mein erstes Fahrrad ließ ich mir vom geschenkten Jugendweihegeld kaufen. Radfahren konnte ich weit früher. Es war Erntezeit, ich war bei den Großeltern zu Besuch, die mussten aber das Getreide der LPG mit einbringen. Ich war allein auf dem Hof und sah Opas Herrenrad. Über die Querstrebe des Herrenrades kam ich noch nicht, aber etwas in Schräglage gelang es mir beim Üben die zwei Pedale zu bewegen. Binnen kurzer Zeit radelte ich über den Hof und kurz darauf zum Feld, auf dem die Großeltern arbeiteten. Die waren echt überrascht als ich mit dem Fahrrad bei ihnen eintraf und keineswegs böse. Ich half die Getreidepuppen mit aufstellen… Taschengeld verdiente ich mir auch mit Rübenhacken, Rübenverziehen, Kartoffelkäfer ablesen und beim Kartoffellesen. Reich wurde keiner bei dieserlei Tätigkeiten, doch sie schulten die Achtung, jedenfalls bei mir, vor jeglicher schweren körperlichen Arbeit. Mit 13 Jahren durfte ich erstmals vierzehn Tage in den Ferien in der Produktion im Leichtmetallwerk Rackwitz arbeiten und Geld verdienen. Sicher auch dem Ansehen meiner Eltern im Werk geschuldet. Sonst war es erst ab 14 erlaubt. Wenn ich jedoch bedenke, seit meinem 14. Lebensjahr bin ich nicht mehr gewachsen, gehe ich davon aus, dass mich damals keiner für einen 13jährigen hielt. Meine 1,71 hatte ich schon damals erreicht.